Kindergrundsicherung: Ein Antrag für alles

von Dr. Brigitta Duhme-Hildebrand

Sonntag, 09.07.2023

zwei kleine Kinder spiel an einem Bachlauf im Wasser
Beitrag anhören

Bei weitem nicht für alle ist die Kindheit eine unbeschwerte Zeit: Über drei Millionen Kinder in Deutschland sind von Armut betroffen oder bedroht. (Foto: Pixabay)

Seit Jahren fordern Sozial-, Wohlfahrts-, Verbraucher- und Kinderschutzverbände sowie Jugendorganisationen und Gewerkschaften eine Kindergrundsicherung. Die Ampelkoalition wollte das Thema angehen, doch passiert ist bislang nichts.

Dabei kam zuletzt im Januar 2023 eine Bertelsmann-Studie über Kinder- und Jugendarmut zu dem Ergebnis: „Mehr als jedes fünfte Kind (20%) und jede:r vierte junge Erwachsene (25%) gelten in Deutschland als armutsgefährdet. Alleinerziehende sowie Familien mit drei und mehr Kindern sind besonders betroffen. Die Daten zeigen, dass sich die Lage nicht gebessert hat. Damit sich an dem strukturellen Problem der Kinder- und Jugendarmut endlich etwas ändert, sollte die Bundesregierung die angekündigte Kindergrundsicherung jetzt schnell und entschlossen auf den Weg bringen.“

Tatsächlich hatte sich die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bundnis90/Grüne Ende 2021 in ihrem Regierungsprogramm auf die Einführung einer Kindergrundsicherung geeinigt: „Die Kindergrundsicherung ist das zentrale familien- und sozialpolitische Projekt der Ampelkoalition, zu dem sich alle Partner bekannt haben. Ziel ist es, Kinder aus der Armut zu holen und alle Familien gleichermaßen zu fördern“, erklärte die stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, Maria Klein-Schmeink noch Anfang April 2023 in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP. Ihre Parteikollegin, Bundesfamilienministerin Lisa Paus, hat die Kosten dafür auf zwölf Milliarden Euro pro Jahr beziffert.

Die Ministerin hat dazu auch bereits ein sogenanntes Eckpunkte-Papier vorgelegt. Die Grundidee dahinter: Die bisherigen staatlichen Leistungen für Familien mit Kindern wie etwa Kindergeld, Kinderzuschlag, Kinderfreibeträge oder das Bildungs- und Teilhabepaket für Bürgergeld-Bezieher sollen in einem nach Einkommen gestaffelten Betrag zusammengefasst und die Beantragung deutlich vereinfacht werden. Das ZDF hat eine Übersicht erstellt, wie die Änderungen im Einzelnen aussehen sollen.

Doch ausgerechnet vom Koalitionspartner FDP kommt starker Gegenwind: Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner verweist auf die kürzlich erfolgte Anhebung des Kindergeldes auf 250 Euro pro Kind und Monat. Die Bundesregierung stelle auf diese Weise für Familien und Kinder insgesamt sieben Milliarden Euro pro Jahr mehr zur Verfügung. "Das Wesentliche für die Kindergrundsicherung ist damit finanziell getan", so Lindner laut einem Bericht des ZDF. Gegenüber der „Bild am Sonntag“ sagte er: Mehr sei zwar "immer wünschenswert, aber nicht immer möglich".

Von einer Kindergelderhöhung profitieren Familien aber bei weitem nicht alle gleichermaßen. Das ZDF rechnet in diesem Zusammenhang vor: „Für jedes Kind bis zum Ende der ersten Ausbildung oder dem Studium bis zum Alter von 25 Jahren zahlt der Staat aktuell 250 Euro Kindergeld pro Monat an die Eltern. Parallel dazu gibt es sogenannte Kinderfreibeträge: Ein bestimmter Anteil des Einkommens, abhängig von der Anzahl der Kinder, auf den keine Steuern fällig werden. Davon profitieren hohe Einkommen. Bei der Steuerberechnung wird vom Finanzamt automatisch ermittelt, ob sich Kindergeld oder Freibeträge für die Eltern mehr lohnen. Sind es die Freibeträge, wird das mit dem bereits ausgezahlten Kindergeld verrechnet. Spitzenverdiener werden hier staatlich stärker entlastet als Geringverdiener mit Kindergeld.“

Noch schlechter ergeht es Familien mit Kindern, die Bürgergeld (früher: Hartz4) beziehen. Bei ihnen wird das Kindergeld als Einkommen gewertet und vollständig auf den Regelsatz angerechnet. Der beträgt zum Beispiel für Kinder zwischen 6 und 13 Jahren aktuell 348 Euro pro Monat. Das Kindergeld (oder eine Erhöhung desselben) kommt nicht etwa auf diesen Regelsatz „oben drauf“, sondern ist darin bereits enthalten. Und das obwohl die Höhe der Regelsätze nach Meinung vieler Experten für ein menschenwürdiges Leben nicht ausreichen. Kein Wunder, denn ihre Berechnung beruht auf den Einkommens- und Ausgabenverhältnissen von etwa 60.000 deutschen Haushalten und orientiert sich an den Verhältnissen der unteren 20 Prozent.

Mit Blick auf eine zukünftige Kindergrundsicherung fordert ein breites Bündnis aus Sozial-, Wohlfahrts-, Verbraucher- und Kinderschutzverbänden sowie Jugendorganisationen und Gewerkschaften den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil deshalb dazu auf, die im Koalitionsvertrag vereinbarte Neudefinition des Existenzminimums für Kinder anzugehen und so den Weg freizumachen für eine Kindergrundsicherung, die vor Armut schützt: „Wir fordern Bundesarbeitsminister Heil auf, unverzüglich die notwendigen Arbeiten an einer sach- und bedarfsgerechten Berechnung des Existenzminimums für Kinder in der Kindergrundsicherung aufzunehmen und hierbei die Expertise von Wohlfahrts-, Sozial- und Fachverbänden einzubeziehen", heißt es dazu in einer Pressemitteilung der Diakonie Deutschland vom 31. Mai 2023.

Für Kinder und Jugendliche, die Bürgergeld beziehen (das frühere ALGII bzw. Hartz4) sind in den Regelsätzen aktuell folgende Beträge für Nahrung und Getränke enthalten (Beträge gerundet): Kinder bis 5 Jahre 104 Euro/Monat bzw. 3,40 Euro/tag; Kinder zwischen 6 und 13 Jahren 136 Euro/Monat bzw. 4,40 Euro/Tag; für Jugendliche zwischen 14 und 17 Jahren 185 Euro/Monat bzw. 6 Euro/Tag und für Jugendliche und junge Erwachsene bis 24 Jahre 139 Euro/Monat bzw. 4,60 Euro/Tag. Mehr Details auf der Website gegen-hartz.de

Kritik an diesen Sätzen und vor allem an ihrer Berechnung kommt von Maria Loheide, Sozialvorständin der Diakonie: „So reichen die bisherigen Ansätze bei der Ernährung nicht einmal aus, um den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zu folgen.“ Loheide fordert deshalb: „Das Existenzminimum muss sauber und realistisch ermittelt werden!“

Sonntag, 09.07.2023