Warum der Pflege die Leute davonlaufen

von Markus Weber

Sonntag, 11.06.2023

Pflegerin und alter Mann blättern in einem Fotoalbum
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In der abgelaufenen Woche waren Bundesarbeitsminister Hubertus Heil und Außenministerin Annalena Baerbock in Brasilien, um dort Pflegekräfte für den deutschen Markt anzuwerben. Ob das die richtige Strategie gegen den Pflegenotstand ist? (Foto: Pixabay)

Eine Umfrage der Diakonie zum Thema Pflege hat erschreckende Resultate ergeben: Seit Jahresbeginn konnten fast 90% der ambulanten Dienste keine neuen Kunden mehr annehmen. In der stationären Pflege mussten über 70% der Träger ihre Leistungen einschränken.

Die Ergebnisse der Umfrage, an der sich mehr als 600 Diakonie-Einrichtungen beteiligt hatten, wurden am 9. Mai 2023 vorgelegt. In einer Pressemitteilung der Diakonie Deutschland heißt es dazu: „Die Versorgungssicherheit in der Langzeitpflege ist akut gefährdet. Mehr als Zweidrittel der Pflegeeinrichtungen und ambulanten Dienste in der Diakonie (76 Prozent) mussten in den vergangenen sechs Monaten bereits Leistungen auf Grund von Personalmangel sowie wegen kurz- und langfristigen Erkrankungen von Mitarbeitenden einschränken. In der stationären Pflege konnten 72 Prozent der Träger Leistungen nicht erbringen. Dies betrifft vor allem die Neubelegung freier Betten. Die Versorgungssituation in der ambulanten Pflege ist noch prekärer: 89 Prozent der Dienste mussten in den letzten sechs Monaten Neukundinnen ablehnen und 29 Prozent konnten im selben Zeitraum Leistungen von Bestandskunden nicht aufstocken. Als Hauptgrund wird auch hier fehlendes Pflegepersonal genannt.“

Maria Loheide, Sozialvorständin der Diakonie Deutschland, kommentierte die Ergebnisse der Umfrage wie folgt: „Die Zahlen zeigen: Wir sind bereits mitten in einer akuten Pflegekrise. Nötig ist ein radikales Umdenken in der Politik, wenn wir die Pflege vor dem Kollaps bewahren wollen. Wir brauchen eine gemeinsame gesellschaftliche und politische Anstrengung, um das Pflegesystem zu heilen. Die Pflegeversicherung braucht eine gesicherte Finanzierung, damit sie die pflegebedürftigen Menschen, die pflegenden Angehörigen und die Pflegedienste und -einrichtungen entlasten und handlungsfähig machen kann. Sonst steuern wir von der akuten Krise in die Katastrophe, in der Pflegebedürftige nicht mehr professionell versorgt und pflegende Angehörige unterstützt werden können.“

Dass der Personalmangel in der Pflege die verbleibenden Mitarbeitenden krank macht, bestätigte auch der im April 2023 veröffentlichte Gesundheitsreport der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK). Drei Viertel (74 Prozent) der befragten Krankenpflegekräfte gaben an, dass sie ihre Arbeit mit dem vorhandenen Personal nur unter großen Anstrengungen schaffen, und auch die große Mehrheit der Altenpflegerinnen und -pfleger (65 Prozent) bestätigt dies.

Maria Loheide, von der Diakonie Deutschland erklärte dazu: „Die Studie macht deutlich, dass die Beschäftigten insbesondere in der Pflege überdurchschnittlich stark vom Personalmangel betroffen sind. Die vorhandenen Mitarbeitenden müssen zusätzliche Arbeiten übernehmen und die Vakanzen kranker Kolleginnen und Kollegen auffangen. Diese Mehrbelastung macht auch sie krank. Diese zentrale Aussage des DAK-Gesundheitsreports kann ich vor dem Erfahrungshintergrund der Diakonie nur unterstreichen.“

„Dass ständiger Personalmangel gravierende Gesundheitsrisiken zur Folge hat, zeigt unsere Studie“, sagt der Landeschef der DAK-Gesundheit, Klaus Overdiek. „Viele Beschäftigte reduzieren zudem ihre Arbeitszeit, um dem Druck standhalten zu können und verschärfen dadurch den Personalmangel weiter. So droht ein Teufelskreis.“ Laut der Studie für den DAK-Gesundheitsreport stehen die Betroffenen unter starkem Termin- und Leistungsdruck, machen Überstunden und versäumen Pausen. Wer regelmäßig Personalmangel erlebt, kann in der Freizeit oft nicht abschalten, verzichtet auf Sport und findet wenig Zeit für Hobbys, Familie und Freunde. In der Folge sind mehr als die Hälfte der Befragten ständig müde und erschöpft (56 Prozent). Auch Schlafstörungen, Rücken- oder Kopfschmerzen können verstärkt auftreten.

Schnelle und vor allem nachhaltige Abhilfe scheint indes nicht in Sicht zu sein. Am 5. April 2023 hatte das Bundeskabinett über den Entwurf des Bundesgesundheitsministeriums für ein »Pflegeunterstützungs- und entlastungsgesetz« (PUEG) beraten. Ende Mai wurde es im Bundestag verabschiedet. Von Seiten der Diakonie Deutschland gab es harsche Kritik am PUEG: „"Dieses Gesetz ist eine Enttäuschung für alle Pflegebedürftigen, Pflegenden und Angehörigen. Es lässt vor allem pflegende Angehörige im Regen stehen, die nach wie vor die größten Pflegeleistungen schultern. Die Kostensteigerungen der letzten Jahre werden bei weitem nicht von der Pflegeversicherung ausgeglichen. Zwar soll es nun ein Budget zur Entlastung pflegender Angehöriger geben, allerdings erst zum Juli 2025. Dafür wird beim Pflegegeld gespart. Die Leistungen reichen nicht aus und kommen viel zu spät", so Maria Loheide, Vorständin Sozialpolitik der Diakonie Deutschland.

Sie fordert eine solide Finanzierung der Pflegeversicherung: "Die Pflegekassen mussten in der Pandemie hohe zusätzliche Kosten übernehmen. Jetzt fehlen ihnen die Mittel um ein tragfähiges Pflegesystem für die Zukunft auf den Weg zu bringen. Wir brauchen eine grundlegende Pflegereform – und zwar bald. Sonst riskieren wir, dass Pflegebedürftige nicht mehr professionell versorgt werden können und pflegende Angehörige erschöpft aufgeben müssen. Das wäre eine Katastrophe!"

Der Deutsche Evangelische Verband für Altenarbeit und Pflege e.V. (DEVAP) hat mit dem "Strategiepapier Altenarbeit und Pflege 2021 bis 2025" ein ganzheitliches Konzept zur Pflegereform vorgelegt, das hier als PDF zum Download bereitsteht.

Vorschläge der Diakonie zur Reform der Pflegeversicherung gibt es unter https://www.diakonie.de/pflegeversicherung

Sonntag, 11.06.2023