Missbrauch: Vorwürfe gegen Essener Gründerbischof

von Christof Beckmann

Sonntag, 24.09.2023

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Kardinal Franz Hengsbach 1991 bei der Pressekonferenz zu seinem Rücktritt, Bild: Martin Engelbrecht, Bistum Essen, Collage: KIP

Seine Ernennung zum Kardinal sah er als Auszeichnung für das ganze Revier. Und im Ruhrgebiet sah man „unser Franz“ als „Kumpel“. Das Bistum Essen machte diese Woche gravierende Missbrauchsvorwürfe gegen Gründerbischof Franz Hengsbach öffentlich …

INFO: An „Kumpel Franz“, den „Ruhrbischof“, erinnern sich noch viele – als Gründerbischof des Bistums Essen war er eine Ikone für die Menschen an der Ruhr und weit darüber hinaus. Gegen ihn sind „gravierende Missbrauchsvorwürfe bekannt geworden“, meldete das Bistum am Dienstag. Angesichts dieser Vorwürfe befürchtet Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck mögliche weitere Betroffene und ruft diese auf, sich bei den unabhängigen Ansprechpersonen des Bistums zu melden. Die Pressestelle des Bistums berichtete:

„Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck lässt gravierende Missbrauchsvorwürfe gegen den ersten Essener Bischof Franz Hengsbach untersuchen, die die 1950er bis 1970er Jahre betreffen. Der 1910 im sauerländischen Velmede geborene Hengsbach war seit Gründung des Ruhrbistums 1958 bis zu seinem Todesjahr 1991 der erste Bischof von Essen, zuvor hatte er das Erzbischöfliche Seelsorgeamt in Paderborn geleitet und war dort Weihbischof. Zwei Vorwürfe betreffen Hengsbachs Zeit als Bischof von Essen, ein Vorwurf betrifft seine Zeit in Paderborn. Ein erster Vorwurf gegen Hengsbach als Essener Bischof aus dem Jahr 2011 wurde 2014 von der meldenden Person zurückgezogen. Nach Kenntnis eines weiteren, erst im vergangenen Herbst erhobenen Vorwurfs hat Bischof Overbeck darauf hingewirkt, diese Vorwürfe gegen Hengsbach zu veröffentlichen. Zudem ruft er nun mögliche weitere Betroffene auf, sich zu melden.

Ausgelöst hatte die aktuellen Nachforschungen zu Hengsbach eine Person, die sich im vergangenen Oktober bei den beauftragten Ansprechpersonen des Bistums Essen gemeldet und zu Protokoll gegeben hat, dass sie im Jahr 1967 einen sexuellen Übergriff durch Hengsbach erlitten habe. Als Bischof Overbeck im vergangenen März von dieser Meldung erfuhr, hat er nach Rücksprache mit Simon Friede, dem Interventionsbeauftragten im Bistum Essen, weitere Nachforschungen zu Kardinal Hengsbach veranlasst. „Unter anderem erfolgte daraufhin die Anfrage an das Erzbistum Paderborn, dem Herkunftsbistum von Kardinal Hengsbach, ob im Aktenbestand weitere Meldungen zu Kardinal Hengsbach vorliegen“, erläutert Overbeck. Als dies in Paderborn bestätigt wurde, nahmen Mitglieder des Essener Interventionsstabs Einblick in den Paderborner Aktenbestand. „Sie fanden dort einen Aktenvermerk, in dem Franz Hengsbach beschuldigt wird, im Jahr 1954 eine minderjährige Jugendliche sexuell missbraucht zu haben.“ Diesen 2011 erhobenen Vorwurf hatte das Erzbistum Paderborn noch im selben Jahr an die Kongregation für die Glaubenslehre weitergeleitet, der unter anderem für Missbrauchsfälle zuständigen Zentralbehörde der römischen Kurie. „Aufgrund der Zuständigkeit der Kongregation für die Glaubenslehre, sah ich den Vorgang als bearbeitet an“, so Overbeck, der bereits damals über den Aktenvermerk in Kenntnis gesetzt und zudem mündlich über die Entscheidung der Glaubenskongregation informiert worden ist, dass der Vorwurf in Rom als nicht plausibel bewertet worden war. 

„In Anbetracht des neuen Vorwurfs, der mir erst jüngst bekannt geworden ist, habe ich mich nach Rücksprache mit dem Interventionsstab und unter Berücksichtigung aller Kenntnisse dazu entschieden, die Vorwürfe gegen Franz Hengsbach öffentlich zu machen.“ Dabei sei ihm bewusst, „was diese Entscheidung, die ich nach gründlicher Abwägung der gegenwärtig zur Verfügung stehenden Erkenntnisse getroffen habe, bei vielen Menschen auslösen wird“, betont der Bischof angesichts der großen Bedeutung, die der Gründerbischof des Ruhrbistums für viele Kirchenmitglieder im Bistum Essen und für die ganze Region hat.

Vor dem Hintergrund der Entscheidung, den Vorwurf aus dem Bistum Essen öffentlich zu machen, nennt Overbeck noch einen weiteren Fall, in dem allerdings der Vorwurf zurückgezogen worden ist. „Die damalige Missbrauchsbeauftragte hat auf diesen Vorwurf sehr professionell und umsichtig reagiert, nach Kenntnisnahme den Kontakt mit der Person gesucht, ihr Hilfsangebote gemacht und später ein Verfahren nach den damals geltenden Richtlinien eingeleitet“, erklärt Overbeck. Im Jahr 2014 habe die Person den Vorwurf jedoch auf eigene Initiative hin zurückgezogen. „Dieses Verfahren ist somit als abgeschlossen zu betrachten“, betont der Bischof. „Ich hoffe, dass es uns bei allen Schritten, die jetzt anstehen, vor allem gelingen wird, stets die Perspektive der Betroffenen in den Vordergrund zu stellen“, hebt Bischof Overbeck hevor. Da nicht auszuschließen ist, dass es weitere Missbrauchsbetroffene gibt, ruft Overbeck Betroffene auf, sich zu melden: „Sollten Sie selbst sexualisierte Gewalt durch Kardinal Hengsbach erlitten haben, dann wenden Sie sich bitte an die beauftragten Ansprechpersonen im Bistum Essen. Das Gleiche gilt auch, wenn Ihnen Hinweise bekannt sind, die für die weitere Aufarbeitung hilfreich sein können.“ (ul)

Die persönliche Erklärung Bischof Overbecks zum Download: https://bistum.ruhr/230919erklaerungoverbeck

Am Freitag, 22. September 2023, wandte sich Bischof Franz-Josef Overbeck in einem Brief an die Gemeinden des Bistums Essen und räumte persönliche Versäumnisse ein:

Bischof bittet um Entschuldigung für Fehler im Umgang mit Hengsbach-Vorwürfen
Brief an die Gemeinden im Bistum Essen

„Nach der Veröffentlichung von Missbrauchsvorwürfen gegen den Gründerbischof des Bistums Essen, Kardinal Franz Hengsbach, räumt Ruhrbischof Franz-Josef Overbeck in einem Brief an die Gemeinden seines Bistums Versäumnisse im Umgang mit diesen Vorwürfen ein: „Ich bitte Sie nun alle um Entschuldigung für meine Fehler.”

So habe er 2011 durch das Erzbistum Paderborn von einem ersten Missbrauchsvorwurf gegen Hengsbach erfahren und nach der Rückmeldung der Kongregation für die Glaubenslehre, dass diese die Vorwürfe für nicht plausibel halte, nichts weiter unternommen, weil er den Fall als bearbeitet ansah. Er habe deshalb auch ein Forschungsteam nicht auf diesen Vorgang aufmerksam gemacht, das die im März vorgestellte Aufarbeitungsstudie zu sexuellem Missbrauch im Bistum Essen erarbeitet hat. „Im Ergebnis muss ich nun eingestehen, dass die Vorwürfe im Jahr 2011 falsch eingeschätzt wurden und den Betroffenen Unrecht geschehen ist“, betont Overbeck in seinem Schreiben. Mit dem Wissen aus einem weiteren Missbrauchsvorwurf, der im März dieses Jahres intensive Recherchen ausgelöst hat, „ist der Vorwurf aus dem Jahr 2011 aus gutem Grund vollkommen neu zu bewerten“, so Overbeck. 

Er betrachte es „aus heutiger Sicht als persönlichen Fehler, nach der Mitteilung über die Bewertung der Glaubenskongregation letztlich die damals vorliegenden Beschuldigungen als erledigt anzusehen“. Dies habe dazu geführt, dass er nicht nur das Forschungsteam für die Aufarbeitungsstudie, sondern auch bereits 2011 die damalige Missbrauchsbeauftragte des Bistums nicht über den vorliegenden Vorwurf gegen Hengsbach informiert habe. „So kam es, dass sie im August des Jahres 2011 die Anfrage einer Behörde in einer Versorgungsangelegenheit verneinte, ob dem Bistum Essen Missbrauchsvorwürfe gegen Kardinal Hengsbach bekannt seien. Das entsprach ihrem Wissensstand und darf ihr nicht angelastet werden“, betont der Bischof.

Er denke heute viel darüber nach, „warum ich bei all meinen damaligen Bemühungen, Missbrauch aufzuklären, zu solchen Fehleinschätzungen gekommen bin, die dann auch zu Fehlern geführt haben“, führt Overbeck in seinem Brief weiter aus. Gerade mit Blick auf die Aufarbeitungsstudie sei ihm nun deutlich geworden, „dass ich nach den Standards damaliger Zeit handelte, die sich aus heutiger Sicht als vollkommen ungenügend darstellen. Ich stellte die Bewertung, der zufolge die Missbrauchsvorwürfe nicht plausibel seien, selbst nicht infrage. Das war falsch. Ich konnte auch nicht glauben, dass ein geschätzter Kardinal, der zugleich mein Vorgänger im Bischofsamt war, anderen Menschen furchtbares Leid zugefügt haben könnte.“ Ihm sei damals nicht bewusst gewesen, dass er damit „dem Muster folgte, dem Schutz des Ansehens eines kirchlichen Würdenträgers Vorrang zu geben und die betroffenen Menschen nicht hinreichend zu sehen“. 

Overbeck schreibt, er habe gelernt und möchte weiter vertiefen „was für uns alle in unserer Kirche gilt: Die Perspektive der von sexueller Gewalt betroffenen Menschen muss im Mittelpunkt stehen und uns in unserem Handeln leiten“. Nun will er den gesamten Vorgang umfassend und unabhängig aufarbeiten lassen – unter anderem suche er hierzu den Kontakt zur gerade entstehenden Aufarbeitungskommission sowie zu den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des Instituts für Praxisforschung und Projektberatung (IPP), das die Aufarbeitungsstudie für das Bistum erstellt hat.“ (Bistum Essen/tr)

Beauftragte Ansprechpersonen im Bistum Essen: Um Betroffenen sexualisierter Gewalt, die Missbrauch durch haupt- oder ehrenamtlich Tätige des Bistums Essen erleiden oder erlitten haben, die Hürde zur Kontaktaufnahme zu erleichtern, hat Bischof Franz-Josef Overbeck im Jahr 2021 ehrenamtliche Ansprechpersonen beauftragt. Jede Person, die von sexualisierter Gewalt in einer katholischen Einrichtung oder durch Mitarbeitende der Kirche betroffen ist, kann sich direkt an diese Ehrenamtlichen wenden. Sie sind von jeder Weisung unabhängig.

Monika Bormann, 0151-16 47 64 11, monika.bormann@bistum-essen.de

Mechtild Hohage, 0151-57 15 00 84, mechtild.hohage@bistum-essen.de

Martin Oppermann, 0160-93 09 66 34, martin.oppermann@bistum-essen.de

Unabhängiges Beratungsangebot bei Fällen und Fragen zu sexualisierter Gewalt: Die "Praxis für Sexualität" in Duisburg unterstützt und berät Sie bei Fällen und Fragen zu sexualisierter Gewalt im kirchlichen Kontext des Bistums Essen. Die Mitarbeitenden der Praxis stehen Ihnen zu allen Fragestellungen, Verdachtsmomenten und sonstigen Anliegen zur Seite. Die Kosten übernimmt das Bistum. https://bistum-essen.praxis-sexualitaet.de/ 

Franz Kardinal Hengsbach: Hengsbach, geboren am 10.9. 1910 in Velmede (Sauerland), war ältestes von acht Kindern auf einem landwirtschaftlichen Anwesen und kam mit 12 Jahren bei einem Besuch bei seinen priesterlichen Onkel Konrad in Schalke zum ersten Mal mit der Welt eines Pfarrers und der Großstadt in Berührung. 1926 wechselte er in die Obertertia an das Gymnasium Theodorianum in Paderborn, machte 1931 Abitur, trat im selben Jahr in das Erzbischöfliche Theologenkonvikt ein und studierte Philosophie und Theologie. Nach Freisemester an der Universität in Freiburg im Breisgau kehrte er wieder nach Paderborn zurück und wurde 1937 von Erzbischof Dr. Kaspar Klein zum Priester geweiht.
Seine erste Stelle erhielt er im Ruhrgebiet, in St. Marien in Herne-Baukau, wurde 1944 in Münster zum Doktor der Theologie promoviert und 1946 Generalsekretär der Akademischen Bonifatius-Einigung in Paderborn. 1947 Generalsekretär des Zentralkomitees zur Vorbereitung der deutschen Katholikentage, 1948 Leiter des Erzbischöflichen Seelsorgeamtes in Paderborn, 1952 Generalassistent des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Päpstlicher Hausprälat. 1953 Titularbischof von Cantano und Weihbischof in Paderborn. In seinem Bischofsring war ein Stück Kohle aus der Schachtanlage Hannover-Hannibal in Bochum, darauf eine antike Münze mit dem Kreuz im Lorbeerkranz.
1958 wurde er erster Bischof des neu gegründeten Bistums Essen. 1960 berief ihn Johannes XXIII. in die Konzilsvorbereitungskommission für die Laienarbeit, 1961 wurde er Militärbischof und mit der Leitung des neu gegründeten Hilfswerkes Adveniat beauftragt. 1971 kaufte er als Mittelsmann Aldi-Chef Theo Albrecht mit 7 Millionen Mark frei und erklärte sich bereit, als Austauschgeisel zu dienen. Mehr als zwei Jahrzehnte bestimmte er als Vorsitzender der Finanzkommission die Arbeit des Verbandes der Diözesen mit. An der Spitze der Kommission Weltkirche trat er für Asylbewerber und Flüchtlinge ein. 1980 Präsident der Kommission der Bischofskonferenzen der Europäischen Gemeinschaft, 1988 von Papst Johannes Paul II. zum Kardinal ernannt. Am 21. Februar 1991 trat er als Bischof von Essen zurück und starb am 24. Juni 1991. Er wurde in der Adveniat-Krypta des Essener Domes beigesetzt.

Sonntag, 24.09.2023