Auf Rettungsmission im Mittelmeer

von Achim Stadelmaier

Montag, 06.06.2022

Boot mit Flüchtlingen auf dem Mittelmeer
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Bei dem Versuch, über das Mittelmeer von Nordafrika nach Europa zu gelangen, starben im vergangenen Jahr 1.589 Menschen. (Foto: united4rescue - Fiona Alihosi by flickr)

Die Überfahrt vom afrikanischen zum europäischen Kontinent ist nach Angaben der UNO-Flüchtlingshilfe „die tödlichste Seeroute der Welt, denn vor den Toren Europas spielt sich Tag für Tag eine Tragödie ab, ohne dass ein Ende in Sicht ist.“

Wie auf der Internetseite der UNO-Flüchtlingshilfe nachzulesen ist, kamen im vergangenen Jahr 107.648 Personen über das Mittelmeer nach Europa. Weiter heißt es dort: „1.589 Menschen haben 2021 die Überfahrt übers Mittelmeer nicht überlebt oder werden vermisst.“ Allerdings könnten diese Zahlen nur geschätzt werden. Wie viele Menschen bei der Mittelmeerüberquerung wirklich umkommen, bleibe im Dunkeln. „Etwa 23 Prozent derjenigen, die 2021 über die Mittelmeerrouten nach Europa kamen, waren Kinder (unter 18 Jahren). Viele von ihnen reisten allein, ohne andere Familienmitglieder.“

Nach internationalem Seerecht „ist jede*r Kapitän*in auf hoher See innerhalb seiner oder ihrer Möglichkeiten verpflichtet, unabhängig von Nationalität, Status und Umständen, in welchen sich die Hilfesuchenden befinden, bei Seenot unverzüglich Hilfe zu leisten. Die Meere sind in Seenotrettungszonen (SAR Zone) unterteilt. Wenn Menschen in der Seenotrettungszone eines Staates gerettet werden, ist dieser Staat für die weitere Koordinierung der Rettungsaktion und für die sichere Ausschiffung der Geretteten zuständig. Nach einer Rettung müssen Flüchtlinge in einen sicheren Hafen gebracht werden. Das ist ein Ort, an dem die Flüchtlinge keinen weiteren Gefahren wie Verfolgung und unmenschlicher Behandlung ausgesetzt sind und die Grundbedürfnisse gesichert sind. Häfen in beispielsweise Libyen fallen nicht darunter.“ (Quelle: UNO-Flüchtlingshilfe)

Trotz der hohen Opferzahlen gibt es für die Fluchtrouten über das Mittelmeer immer noch kein staatlich koordiniertes Seenotrettungssystem der Europäischen Union (EU). Die 2004 gegründete EU-eigene Agentur Frontex mit Sitz in Warschau soll einerseits die EU-Außengrenzen beobachten und schützen. Eigenen Angaben zufolge wurde die Frontex 2016 „ausgebaut und verstärkt und wurde zur Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache, wodurch ihre Aufgabe von der Kontrolle der Migrationsströme auf Grenzschutz erweitert wurde und sie dadurch zunehmend Verantwortung für die Bekämpfung von grenzüberschreitender Kriminalität erhielt. (…) Das Mandat der Agentur wurde auch offiziell um Such- und Rettungsaufgaben erweitert, wenn derartige Aufgaben im Zusammenhang mit der Überwachung der Seegrenzen erforderlich werden.“

Doch statt Geflüchteten in Seenot zu helfen, häuften sich in der jüngeren Vergangenheit Vorwürfe, nach denen Frontex-Kräfte selbst oder von Frontex alarmierte nationale Küstenwachen sogenannte „push backs“ durchgeführt haben sollen. Dabei werden die Flüchtlingsboote abgedrängt, aufs offene Meer gezogen und manchmal sogar mit scharfer Munition beschossen. Einen solchen bewaffneten Angriff der sogenannten Libyschen Küstenwache auf 50 Menschen in Seenot hat zum Beispiel die Crew des Aufklärungsflugzeugs „Seabird“ der Organisation „Sea-Watch“ am 30.06.2021 beobachtet und im Video festgehalten. Nicht zuletzt aufgrund solcher Vorwürfe und entsprechender Recherchen verschiedener Medien sowie interner Ermittlungen des EU-Amts für Betrugsbekämpfung (OLAF) ist der bisherige Frontex-Chef Fabrice Leggeri am 29. April 2022 von seinem Amt zurückgetreten. Mehr Infos dazu hier.

Da die europäischen und andere Staaten bei der Seenotrettung von Flüchtlingen weitgehend versagen, sind vor ca. sieben Jahren Nichtregierungsorganisationen und Vereine in die Bresche gesprungen. Zu den Männern und Frauen der ersten Stunde gehört auch Friedhold Ulonska. Seit 2016 war er als Kapitän oder Offizier schon bei vielen Rettungseinsätzen auf dem Mittelmeer dabei – unter anderem bei Sea-Watch, Sea-Eye, Lifeline und aktuell zuletzt für die deutsche Hilfsorganisation RESQSHIP. Mit dem Motorsegler „Nadir“ kreuzte er von Mitte Mai bis Anfang Juni 2022 vor der libyschen Küste.

Eine Rettungsfahrt vom Sommer 2019 in dieselben Gewässer ist ihm besonders in Erinnerung geblieben: „Ich habe nie in meinem Leben solche Angst, so einen Horror, so ein abgrundtiefes Angstgefühl gesehen, wie bei diesen Menschen. Ich kann das nicht beschreiben, aber das sind Blicke, die hab ich nie vergessen!“ Viele der Menschen, die sie von wackligen Schlauchbooten geholt hätten, seien aus Libyen gekommen, berichtet Ulonska: „Die sitzen dort in Lagern, die werden ausgebeutet oder die werden erpresst, geschunden. Die Optionen, die sie haben, ist entweder in den Lagern draufzugehen oder die Flucht über das Meer zu riskieren.“

Ulonska spricht ruhig und sachlich, aber man merkt ihm die Wut an. Es müsse endlich Schluss damit sein, dass die private Seenotrettung behindert und sogar kriminalisiert wird, so der Kapitän. Die Vorwürfe, sie würden illegale Einwanderung begünstigen, seien schlicht falsch: „Wir retten Menschen wie die Feuerwehr bei einem Brand. Und wie kann man so etwas behindern oder zu verhindern versuchen?“

Montag, 06.06.2022