Missbrauchsfälle: Münsteraner Bischöfe haben versagt
Sonntag, 19.06.2022

Ehemalige und aktive Kirchenverantwortliche haben nach einer Studie im Bistum Münster wegen Missbrauch verurteilte Geistliche immer wieder in der Seelsorge eingesetzt und damit weitere Taten ermöglicht – ein dramatisches Versagen …
INFO: Seit dem 1. Oktober 2019 untersucht ein fünfköpfiges Team von Geschichtswissenschaftlern der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Großbölting (jetzt Universität Hamburg) die Fälle von sexuellem Missbrauch durch katholische Priester und andere Amtsträger im Bistum Münster in den Jahren 1945 bis 2020. Die Initiative für die Studie ging vom Bistum aus, das dafür rund 1,3 Millionen Euro zur Verfügung stellte. Ein siebenköpfiger Beirat begleitete die Forschung, die Beachtung wissenschaftlicher und juristischer Standards sowie die Zusammenarbeit von Bistum und Universität. Das Bistum entsandte dazu seinen „Interventionsbeauftragten“ Peter Frings, die Universität ihre Ethik-Beauftragte, Prof. Dr. Franziska Dübgen, auch der Kreis der Betroffenen war vertreten.
Das Forscherteam hat seine Studienergebnisse am 13. Juni 2022 der Öffentlichkeit präsentiert. Danach haben ehemalige und heute noch aktive Kirchenverantwortliche im Bistum Münster große Fehler im Umgang mit Missbrauchsfällen begangen. Die Bischöfe Michael Keller (Amtszeit 1947-1961), Joseph Höffner (1962-1969), Heinrich Tenhumberg (1969-1979) und Reinhard Lettmann (1980-2008) hätten verurteilte Geistliche immer wieder in der Seelsorge eingesetzt und damit weitere Taten ermöglicht, heißt es in der am Montag von der Universität Münster vorgestellten Untersuchung.
Dem aktuellen Bischof Felix Genn (72) bescheinigt das Forschungsteam um die Historiker Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht zwar, den Umgang mit Missbrauchsfällen den Regeln der Bischofskonferenz angepasst zu haben. Gleichwohl habe der seit 2009 amtierende Oberhirte eine längere Phase gebraucht, um seiner Verantwortung für Intervention und Prävention gerecht zu werden. In seinen ersten Jahren sei der Bischof Missbrauchstätern, sofern sie Reue zeigten, kirchenrechtlich nicht immer mit der gebotenen Strenge begegnet. Genn habe eingeräumt, gegenüber Beschuldigten „zu sehr als Seelsorger und zu wenig als Dienstvorgesetzter gehandelt zu haben“. Ein Vorwurf in einem Fall trifft auch den heutigen Essener Bischof Franz-Josef-Overbeck, der früher Weihbischof in Münster war. Overbeck habe 2009 entschieden, den Fall eines beschuldigten Offizialatsmitarbeiters nicht der Missbrauchskommission vorzulegen. Die Vorwürfe aus dem Jahr 1997 seien damit nicht vollständig aufgearbeitet.
Die Untersuchung zählt nach Auswertungen von Akten und Betroffenen-Interviews 610 Betroffene und 196 Beschuldigte zwischen 1945 und 2020. Damit liegt die Zahl der Beschuldigten um ein Drittel höher als in der 2018 vorgestellten MHG-Studie der Deutschen Bischofskonferenz. Missbrauchsvorwürfe betreffen 4,1 Prozent aller Priester zwischen 1945 und 2020. Das Bistum Münster hatte die am 1. Oktober 2019 begonnene Studie in Auftrag gegeben und den Forschenden zugleich Unabhängigkeit zugesichert. Anders als andere Diözesen entschied sich Münster gegen ein juristisch angelegtes Gutachten wie in Köln oder München, sondern beauftragte das Team aus vier Historikern und einer Ethnologin. Um die Unabhängigkeit der Wissenschaftler zu wahren, erfahren die Verantwortlichen der Diözese erst nach den Medienvertretern am Mittag von den Ergebnissen. Genn äußerte sich am Freitag vor Journalisten zu den Inhalten. Mit Blick auf die Veröffentlichung richtete das Bistum eine Telefon-Hotline für Missbrauchsbetroffene ein. Auch Menschen, die Angaben zu Fällen sexualisierter Gewalt machen wollen, können sich unter Tel. 0251 / 4956252 melden. (KNA)
Genn kündigt Maßnahmen gegen Missbrauch an und räumt Fehler ein
Münsters katholischer Bischof Felix Genn hat persönliche Fehler im Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt eingeräumt. Vier Tage nach Vorstellung einer unabhängigen Missbrauchsstudie für seine Diözese sagte er vor Journalisten in Münster: „Ich selbst hätte in einigen Situationen anders handeln müssen.“ Zugleich wies der 72-Jährige darauf hin, dass er sexuellen Missbrauch weder vertuscht noch die Interessen der Institution über die Sorge um die Betroffenen gestellt habe. Daher wolle er nicht zurücktreten und seine verbleibende Amtszeit dazu nutzen, Maßnahmen gegen sexuellen Missbrauch zu ergreifen.
Nach den Worten von Genn haben aber seine verstorbenen Amtsvorgänger Reinhard Lettmann, Heinrich Tenhumberg und Michael Keller im Umgang mit sexuellem Missbrauch „schwere Fehler“ gemacht. „Sie ließen sich von einer Haltung leiten, die den Schutz der Institution im Blick hatte, nicht aber die Betroffenen.“ Mit den Missbrauchsbetroffenen solle abgesprochen werden, wie dieser Bischöfe und anderer verstorbener Amtsträger gedacht werden solle. Solange werde die gesperrte Bischofsgruft im Münsteraner Dom geschlossen bleiben.
Auch der frühere Münsteraner Generalvikar und inzwischen emeritierte Hamburger Erzbischof Werner Thissen (83) sieht persönliche Fehler im Umgang mit Fällen sexualisierter Gewalt, so Genn. Er sei mit ihm über seinen Titel Ehrendomkapitular von Münster im Gespräch. Zudem komme Genn der Bitte des Ruhestandsgeistlichen Theodor Buckstegen nach, ihn als Domkapitular zu entpflichten. Buckstegen war von 1986 bis 2009 Personalchef des Bistums.
Genn nannte es einen Fehler, in seiner Anfangszeit in Münster gegenüber Beschuldigten nicht hart genug durchgegriffen zu haben. „Ich fühlte mich da in der Rolle zwischen Seelsorger und Richter.“ Auch habe er Pfarreien nur unzureichend über bei ihnen eingesetzte Missbrauchstäter informiert. Zudem habe er sich als früherer Essener Bischof im Fall des nach München versetzten mehrfachen Missbrauchstäters H. zu sehr auf das dortige Erzbistum verlassen.
Genn kündigte ein breites Maßnahmenpaket gegen Missbrauch und Machtmissbrauch an. So lässt er prüfen, ob sein Bistum vorübergehend eine kirchliche Verwaltungsgerichtsbarkeit einführt, bis es hierzu Festlegungen aus Rom und von der Bischofskonferenz gibt. Kirchliche Verwaltungsgerichte könnten gerade bei Missbrauchsfällen kirchliche Verwaltungsakte rechtlich überprüfbar machen, sagte der Bischof.
Zudem wolle er Macht abgeben, sagte Genn. „Obwohl kirchenrechtlich die Letztverantwortung in vielen Fragen beim Bischof bleiben wird, bin ich bereit, mich im Rahmen einer Selbstverpflichtung an die Entscheidungen diözesaner Gremien zu binden.“. Personalentscheidungen würden künftig „nachvollziehbarer und partizipativer getroffen“. Die Personalkonferenz werde „geschlechtergerecht“ aufgestellt, um „männerbündischen Strukturen“ entgegenzuwirken. Weiter kündigte Genn eine schärfere Kontrolle von Tätern und Beschuldigten an. Dass diese ihre Auflagen einhalten, werde ab kommendem Jahr eigens ein Mitarbeiter überprüfen.
Der Bischof gab auch die Namen der Mitglieder einer künftigen Aufarbeitungskommission bekannt, zu der auch der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller gehört. Derartige Kommissionen hatte der frühere Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, mit der Kirche vereinbart. Von Andreas Otto (KNA)
Statement von Bischof Genn am 17. Juni im Wortlaut: https://www.bistum-muenster.de
Video: Pressegespräch - Bischof Genn zur Studie der WWU Münster
Die Ergebnisse der Missbrauchsstudie stehen auf der Website der Westfälischen Wilhelms-Universität zum Download bereit: Ergebnisse der Missbrauchsstudie (Volltext, PDF zum Download auf der Website der Universität Münster),
Mehr auf der Sonderseite des Bistums „Untersuchung zum sexuellen Missbrauch im Bistum Münster“