Missbrauch: 26 Jahre verdrängt & geschwiegen

von Jil Blume-Amosu & Manfred Rütten

Sonntag, 28.04.2024

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Die "ForuM-Studie" zur Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt und anderen Missbrauchsformen in der Evangelischen Kirche und Diakonie in Deutschland wurde am 25. Januar 2024 in Hannover der Öffentlichkeit vorgestellt. (Foto: Pixabay)

Spätestens seit der Vorstellung der sogenannten ForuM-Studie Ende Januar 2024 in Hannover ist es nicht mehr zu leugnen: Auch in der Evangelischen Kirche und ihrer Diakonie gab es Fälle von Missbrauch und sexualisierter Gewalt. Die Studie zählt 2.225 Opfer

Die Autoren der ForuM-Studie, die im Auftrag der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und ihrer Diakonie erstellt wurde und an der insgesamt acht unabhängige Forschungsinstitute und Universitäten beteiligt waren, weisen in ihrem Abschlussbericht allerdings sehr deutlich darauf hin, dass es sich sowohl bei den Opferzahlen als auch bei der Zahl der ermittelten mutmaßlichen Täter bzw. Beschuldigten (1.259) nur um „die Spitze der Spitze des Eisbergs“ handele. Von den insgesamt 20 evangelischen Landeskirchen habe nur eine einzige – wie im Auftrag vereinbart – alle Personalakten vollständig an die Forschenden übergeben. Alle anderen Landeskirchen hätten lediglich Disziplinarakten gesichtet und zugeliefert und dies mit mangelnden zeitlichen und personellen Ressourcen begründet.

Wie es im Abschlussbericht weiter heißt, sei die Datenlage für die ForuM-Studie deshalb deutlich eingeschränkt – und damit auch deren Aussagekraft. Die Forschenden nennen zum Vergleich Zahlen der 2018 veröffentlichten MHG-Studie, die den „sexuellen Missbrauch an Minderjährigen“ in der katholischen Kirche untersucht hatte: „Im Gegensatz zur MHG-Studie, bei der eine Durchsicht von insgesamt 38.156 Personalakten katholischer Pfarrer erfolgte, basieren die vorliegenden Ergebnisse auf einer eingeschränkteren Quellenlage (4.282 Disziplinarakten, 780 Personalakten und 1.318 weitere Unterlagen). Das Forschungsteam der ForuM-Studie ist deshalb sicher: Mehr Akteneinsicht hätte zu höheren Täter- und Opferzahlen geführt. So aber bleibe das Dunkelfeld groß.

Die EKD, ihre 20 Landeskirchen und die Diakonie Deutschlands hatten die ForuM-Studie 2020 in Auftrag gegeben. Nach der Präsentation der Ergebnisse im Januar 2024 zeigten sich alle kirchlichen Vertreter*innen erschüttert und sicherten eine umfassende Aufarbeitung zu. Laut einem epd-Bericht vom 26.02.2024 sagte der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland (EKiR): „„Wir müssen vor allem den Betroffenen gut zuhören, um das erlittene Unrecht in seiner ganzen Dimension begreifen zu können.“ Sein Stellvertreter Christoph Pistorius erklärte, die Maßnahmen zur Prävention und Intervention in Kirche und Diakonie müssten nun überprüft und gegebenenfalls nachjustiert werden.

In der EKiR gebe es bereits „intensive Präventions- und Interventionsmaßnahmen“, sagte der Präses. „Wer mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, muss ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen.“ Es gebe Schutzkonzepte, Präventionsschulungen, Melde- und Beratungsstellen. „Aber wir müssen schauen, ob diese Maßnahmen reichen. Wir müssen lernen, wo es Nachbesserungsbedarf gibt.“ Im Vordergrund müsse jetzt stehen, auf die betroffenen Menschen zu hören und die Studie konsequent auszuwerten, betonte Latzel. „Hinter jedem dieser einzelnen Fälle steht erlittenes Unrecht, steht das Leid von einzelnen betroffenen Menschen und steht schuldhaftes Versagen von Verantwortungsträgern unserer Kirche.“

Weiter heißt es im epd-Bericht: „Die amtierende EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs sprach von einem »eklatanten Versagen« in Kirche und Diakonie. »Wir haben diese Studie gewollt, wir haben sie initiiert und wir nehmen sie an, mit Demut«, sagte sie. Ähnlich äußerte sich Diakonie-Präsident Rüdiger Schuch: »Die Institution Diakonie hat in ihrem Schutzauftrag hier versagt.« Man werde Verantwortung übernehmen.“

Laut epd sehen die an der ForuM-Studie beteiligten Forscher „in der föderalen Struktur der EKD und ihrer Gliedkirchen ein Hindernis für die Aufarbeitung. Sie regen zudem kirchenunabhängige Ansprechstellen für Betroffene und eine externe Ombudsstelle für Betroffene an. Empfohlen wird auch die Einführung einer umfassenden, verbindlichen Aktendokumentation und Statistik. Auch eine Personalaktenanalyse sei unabdingbar für eine transparente Aufarbeitung.“

Die komplette, gut 870 Seiten starke ForuM-Studie sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse kann unter https://www.forum-studie.de/ heruntergeladen werden. Reaktionen der EKD und inzwischen angestoßene Aufarbeitungsprozesse sind gebündelt unter https://www.ekd.de/aufarbeitungsstudie-forum-82255.htm zu finden. Betroffene von Missbrauch oder sexualisierter Gewalt, die keinen Kontakt zur Kirche wünschen, können sich mit ihren Anliegen an eine unabhängige Anlaufstelle wenden: https://www.anlaufstelle.help/

Sonntag, 28.04.2024