35 Jahre Mauerfall: Als Christin leben in der DDR
Sonntag, 10.11.2024
Ohne die Kirchen wäre der Fall der Mauer wohl kaum möglich gewesen. Überall im Land boten sie Schutzräume an, in denen die Protestbewegung der DDR über Jahre zu dem wachsen konnte, was dann 1989 auch durch Volkspolizei und Stasi nicht mehr aufzuhalten war
Diese Rolle der Kirchen ist insofern erstaunlich, als sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche in der DDR zwischen 1950 und 1989 einen erheblichen Rückgang ihrer Mitgliederzahlen erlebten. In den 1950er Jahren gehörten noch etwa 80 % der Bevölkerung zur Evangelischen Kirche, doch im Laufe der Jahrzehnte sanken diese Zahlen dramatisch. Gegen Ende der DDR waren weniger als 30 % der Menschen evangelisch. Der Rückgang wurde maßgeblich durch staatliche Repressionen gegen religiöse Organisationen und gezielte Säkularisierungspolitiken, wie die Jugendweihe, gefördert.
Die katholische Bevölkerung war in der DDR stets eine Minderheit. Vor allem in den Regionen der ehemaligen preußischen Ostprovinzen wie Schlesien oder Oberschlesien und auch im Eichsfeld in Thüringen war sie stark vertreten. In den 1950er Jahren gehörten etwa 10 % der DDR-Bürger zur katholischen Kirche, doch bis Ende der 1980er Jahre sank auch hier der Anteil auf unter 5 %. Die katholische Kirche war in ihren Aktivitäten ebenfalls eingeschränkt und litt unter ähnlichen Herausforderungen wie die evangelische Kirche.
Ursächlich für den Mitgliederschwund beider Konfessionen war die Politik der sozialistischen SED-Regierung, die die Kirchen als potenziellen Gegner sah und aktiv atheistische Werte förderte. Religiöse Aktivitäten wurden überwacht und teilweise eingeschränkt. Die Jugendweihe wurde als atheistische Alternative zur Konfirmation eingeführt und trug zur Säkularisierung bei. Auch der soziale Druck und die Angst vor Diskriminierung führten dazu, dass viele Menschen offiziell aus den Kirchen austraten.
Christen in der DDR sahen sich vielfältigen Belastungen und Einschränkungen ausgesetzt:
1. Diskriminierung in Bildung und Beruf: Christliche Jugendliche wurden in Bildung und Beruf stark benachteiligt. Die staatlich geförderte Jugendweihe war eine atheistische Alternative zur Konfirmation, und wer daran nicht teilnahm, riskierte Nachteile in der schulischen Laufbahn und beim Zugang zu bestimmten Studiengängen oder Berufen. Vor allem berufliche Positionen im öffentlichen Dienst und in führenden Positionen waren häufig für gläubige Christen schwer oder gar nicht erreichbar.
2. Überwachung und Druck durch die Stasi: Der Staatssicherheitsdienst der DDR (Stasi) überwachte christliche Gemeinschaften intensiv, um vermeintliche „staatsfeindliche“ Aktivitäten zu unterbinden. Kirchenmitglieder und insbesondere kirchliche Mitarbeiter wurden systematisch bespitzelt, und viele Christen wurden unter Druck gesetzt, als inoffizielle Mitarbeiter (IM) für die Stasi zu arbeiten.
3. Sozialer Druck und Isolation: Christen mussten mit sozialem Druck umgehen. Ihre Weltanschauung galt als konträr zur sozialistischen Ideologie, weshalb sie oft als „gesellschaftsfern“ betrachtet wurden. Der Austritt aus der Kirche war gesellschaftlich erwünscht, und Familien, die an ihrem Glauben festhielten, mussten mit sozialer Isolation und Ausgrenzung rechnen. Kinder von christlichen Familien wurden in Schulen und Freizeitorganisationen wie der Freien Deutschen Jugend (FDJ) oft benachteiligt oder ausgegrenzt.
4. Einschränkung religiöser Aktivitäten: Religiöse Veranstaltungen und Aktivitäten unterlagen staatlicher Kontrolle, und die Kirchen durften nur eingeschränkt öffentlich wirken. Kirchliche Publikationen, Bildungsangebote und Jugendgruppen wurden stark reguliert. Religiöse Symbole und Rituale, wie das Tragen eines Kreuzes oder der Besuch von Gottesdiensten, führten häufig zu Misstrauen und erhöhter Überwachung durch die Behörden.
5. Beeinträchtigung des Familienlebens: Da der sozialistische Staat den Erziehungsauftrag der Eltern in religiösen Fragen weitgehend ablehnte, wurde die christliche Erziehung von Kindern erschwert. Kirchliche Feiertage und Feste, wie Weihnachten und Ostern, wurden offiziell entchristlicht oder als „kulturelle Ereignisse“ umgedeutet.
6. Verweigerung von staatlicher Unterstützung und Vereinsverbot: Christliche Vereinigungen und Hilfsorganisationen hatten kaum Spielraum und wurden weitgehend verboten. Kirchliche Gruppen, die versuchten, sozial-karitative Aufgaben wahrzunehmen, standen unter strenger Aufsicht und erhielten nur begrenzt staatliche Unterstützung.
Den wegen ihres Glaubens bedrängten Christen in der damaligen DDR hat die Schriftstellerin Viola Ramsden ein Buch gewidmet, das im August 2024 im SCM-Verlag erschienen ist. „Herzen ohne Mauer“ – so der Titel – gibt auf 256 Seiten anhand von elf verschiedenen Biografien einen tiefen Einblick, wie Christenmenschen die DDR, die Friedliche Revolution und die Zeit danach erlebten. In einer Pressemitteilung des Verlages heißt es dazu weiter:
„Einfühlsam berichtet Viola Ramsden, wie ihre Interviewpartnerinnen und -partner schon von klein auf wegen ihres christlichen Glaubens bedrängt und um Lebenschancen benachteiligt wurden. Auf beeindruckende Weise hielten sie diesem Druck stand und hielten an ihrem Glauben an Jesus Christus fest. Gleichzeitig verknüpft Viola Ramsden diese packenden Lebensberichte mit politischen und gesellschaftlichen Fakten über das Leben im Osten vor und nach der Wende sowie mit ihrer eigenen Biografie. Das Buch ist ein Beitrag zum Verständnis der historischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die bis heute das politische Klima in Ostdeutschland prägen. Es öffnet die Tür für ein echtes Erkennen der Verletzungen, die durch Unwissenheit auf westlicher Seite bei den Menschen im Osten nach dem Mauerfall und der Wiedervereinigung entstanden sind. Darüber hinaus lädt das Buch Menschen aus Ost und West gleichermaßen ein, sich intensiv mit ihrer eigenen »Ost-Geschichte« auseinanderzusetzen. Auf berührende Weise wird im Buch deutlich, dass der Glaube und seine lebensspendenden Auswirkungen sich durch Mauern aus Stein weder einsperren noch unterdrücken lassen. Ramsden zeigt dabei auch die Unterschiede der Lebensbedingungen im geteilten Deutschland auf, die so manchem aus dem Westen bis heute unbekannt sind.“ Hier geht es zu einer PDF-Leseprobe
Martin Gundlach, Chefredakteur der Zeitschrift „AUFATMEN“ urteilt über das Buch: „Als Ehemann einer Frau, die als Christin in der DDR groß geworden ist, habe ich die Episoden mit Interesse gelesen. Das Buch ist wie ein Puzzle: Jede der elf Geschichten erzählt vom Leben der Christinnen und Christen im Osten Deutschlands. In der Summe entsteht ein lehrreiches und unterhaltsames Bild: Gebürtige »Wessies« werden viel Neues lernen – und Leser aus dem Osten der Republik werden sich in vielem wiederfinden. So trägt dieses Buch dazu bei, einander besser zu verstehen. Empfehlenswert.“