1938: Pfarrer predigt gegen NS-Pogrome

von Matthias Huttner

Sonntag, 12.11.2023

Gedenktafel für den evangelischen Pfarrer Julius von Jan
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Diese Gedenktafel im Garten der St. Martinskirche in Oberlenningen erinnert an den evangelischen Pfarrer Julius von Jan, der 2018 posthum mit der jüdischen Ehrung "Gerechter unter den Völkern" ausgezeichnet wurde. (Foto: privat)

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen in ganz Deutschland jüdische Synagogen in Flammen auf. Jüdische Wohnungen und Geschäfte wurden von den Nazis demoliert, ihre Besitzer verprügelt oder gar verhaftet und jüdische Friedhöfe geschändet.

Als "Reichskristallnacht" oder „Reichspogromnacht“ ging dieser Tag in die Geschichte ein. Nach Einschätzung von Historikern markierte das Jahr 1938 den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung der deutschen Juden hin zu ihrer systematischen Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland, die in den Holocaust mündete. Auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) erklärte 2008 zum 70. Jahrestag der Pogrome, die brennenden Synagogen seien das Vorzeichen des Völkermordes am europäischen Judentum gewesen.

Der damalige EKD-Ratsvorsitzende Wolfgang Huber schrieb 2008 in seinem Geleitwort für die Handreichung "Die »Kristallnacht«“: "In den Kirchen herrschten damals mehrheitlich Schweigen, Wegschauen oder gar heimliche Zustimmung". Nur wenige mutige Stimmen hätten damals die Verbrechen beim Namen genannt. Deshalb sei der 9. November "ein Tag der Buße und Umkehr aus der langen Geschichte christlicher Judenfeindschaft".

Zu den wenigen Geistlichen, die die Verfolgung der Juden durch die Nazis damals öffentlich angeprangert haben, gehört der evangelische Pfarrer Julius von Jan. Nur sieben Tage nach den Pogromen vom 9. November 1938 stieg er am Buß- und Bettag auf die Kanzel seiner Kirche im baden-württembergischen Oberlenningen, um im Gottesdienst die Verbrechen der Nazis öffentlich zu verurteilen. Zwei Wochen später wurde er von NS-Schergen verprügelt, als „Judenknecht“ beschimpft und von der Polizei in „Schutzhaft“ genommen. Es folgten Gerichts- und Disziplinarverfahren sowie 1943 eine Strafversetzung an die Ostfront. Von dort kehrte er nach vier Monaten aufgrund einer Gelbsuchterkrankung nach Deutschland zurück. Nach Kriegsende und kurzer amerikanischer Kriegsgefangenschaft kehrte Julis von Jan im September 1945 in seine Gemeinde in Oberlenningen zurück. Er starb am 21. September 1964 in Korntal. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ehrte Julius von Jan 2018 posthum mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“.  

Ein anderer evangelischer Geistlicher, der den Nazis Paroli bot, war Paul Schneider, geboren am 29.  August 1897 in Pferdsfeld (Hunsrück). 1926 wurde Schneider Pfarrer der Kirchengemeinden Hochelheim und Domholzhausen. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 erkannte er sehr bald, dass die Kirche Jesu Christi um eine Auseinandersetzung mit dem Naziregime, das die absolute Autorität Gottes in Frage stellte, nicht herumkommen würde. Er trat dem "Pfarrernotbund" bei, der später zur "Bekennenden Kirche" wurde. Bereits im September 1933 kam es zu ersten Zusammenstößen mit der NSDAP, Kirchenvertretern in Hochelheim und der Leitung der evangelischen Kirche im Rheinland, so dass eine Versetzung immer unausweichlicher wurde.

Ab Mai 1934 übernahm Paul Schneider die Gemeinden Dickenschied und Womrath im Hunsrück. Kurz nach Amtsantritt kam es bei der Beerdigung eines Hitlerjungen zum Eklat, Schneider wurde verhaftet. Seitdem wurde er bespitzelt, angezeigt, verhört und mehrfach eingesperrt. Am Erntedankfest 1937 wurde er erneut verhaftet und nach zwei Monaten im Gestapo-Gefängnis in Koblenz als Häftling Nr. 2491 in das Konzentrationslager Buchenwald in Weimar gebracht. Er hilft, spendet Trost und ermutigt die Mitgefangenen. Anlass zur verschärften Einzelhaft im Arrestzellenbau ist seine Weigerung, an Hitlers Geburtstag 1938 zum Grüßen der Hakenkreuzfahne die Mütze abzunehmen. Er predigt aus dem Zellenfenster, ruft den auf dem Appellplatz angetretenen Mitgefangenen Mut zu und klagt die SS an. Folterungen und grausamste Quälerei, Essens- und Schlafentzug sowie Dunkelarrest hinderten ihn nicht, Seelsorger und Verkünder des Wortes Gottes zu sein. Durch eine Überdosis Strophantin wurde der „Prediger von Buchenwald“ von den Nazis am 18. Juli 1939 für immer zum Schweigen gebracht.

Als eines der wichtigsten Dokumente aus der Zeit des Kirchenkampfes im nationalsozialistischen Deutschland und als wegweisendes Lehr- und Glaubenszeugnis der Kirche im 20. Jahrhundert gilt bis heute die Barmer Theologische Erklärung. Als Beschluss der ersten Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche (DEK), die vom 29. bis 31. Mai 1934 in Wuppertal-Barmen tagte, betont sie gegenüber den Anschauungen u.a. der NSDAP-nahen "Deutschen Christen" die Ausschließlichkeit der Christus-Offenbarung und der Christus-Herrschaft.

An der Bekenntnissynode, die in der reformierten Kirche Barmen-Gemarke (Wuppertal) stattfand, nahmen 139 Delegierte aus 25 Landes- und Provinzialkirchen teil. Die von dem bekannten Theologen Karl Barth maßgeblich geprägte Erklärung wurde am 31. Mai 1934 einmütig angenommen und stärkte den Mut der Synode, dem herrschenden Kirchenregiment seine Legitimität abzusprechen und sich als die einzige legale Vertretung der DEK und damit als Kirche zu verstehen. Die Bekennende Kirche, die sich auf dieser Synode formierte, erhielt so ihr geistiges Widerstandszentrum.

Die Barmer Theologische Erklärung richtete sich gegen die Bedrohung der theologischen Grundlage der DEK durch die Deutschen Christen, einer Glaubensbewegung unter dem unmittelbaren Einfluss der NSDAP. Zu den Forderungen der Deutschen Christen gehörten die Verkündigung einer "heldischen Jesus-Gestalt als Grundlage eines artgemäßen Christentums“, die Abschaffung des Alten Testaments der Bibel, den Ausschluss von "Nichtariern“ aus der Kirche, den "Schutz des Volkes vor den Untüchtigen und Minderwertigen" und ein Treueeid der Pfarrer auf Adolf Hitler.

Gegen diese Entchristlichung bildeten sich bis Ende 1933 in allen Landeskirchen "Bekenntnisgemeinden“ und regionale "Bekenntnissynoden“. Zur ersten reichsweiten "Bekenntnissynode der Deutschen Evangelischen Kirche“ trafen sich in Wuppertal-Barmen lutherische, reformierte und unierte Christen und verabschiedeten nach hartem Ringen einstimmig die Barmer Theologische Erklärung. Sie gehört heute noch zu den Glaubensgrundsätzen vieler evangelischer Landeskirchen in Deutschland, auf die z.B. auch die Gemeindeleitungsmitglieder (Presbyter/innen) bei ihrer Einführung vereidigt werden. Das Glaubenszeugnis trug zur Gründung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1948 bei und zur Bildung der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa 1973.

Die komplette Barmer Theologische Erklärung ist nachzulesen unter http://www.ekd.de/glauben/bekenntnisse/barmer_theologische_erklaerung.html und im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 858.

Sonntag, 12.11.2023